Die Gemeinde in Drais
Geschichte der Draiser Gemeinde
„Leben ist und bringt Veränderung“: Was auf jeden Einzelnen zutrifft, gilt auch für die Entwicklung einer Gemeinde. Pfarrer Reinhard Walter war es, der diesen weisen Satz einst in die Chronik schrieb. Zwei Jahrzehnte hat er die Evangelische Kirchengemeinde Finthen-Drais begleitet und geprägt. 1955 war sie ins Leben gerufen worden und hatte seither eine durchaus spannende Entwicklung erlebt - trotz oder gerade wegen Kontinuitäten und Brüchen, Unsicherheiten und Zwischenlösungen, Jubeltagen und Erfolgen. Wie im wahren Leben also.
Zum 1. Januar 2014 hat sich die Kirchengemeinde neu geordnet. Nach 59 Jahren, wenn man so will kurz vor der Diamantenen Hochzeit. Finthen wurde zur eigenständigen Gemeinde, Drais hat sich mit Lerchenberg zusammengeschlossen. Kein einfacher Schritt nach so langer Zeit, doch zum Vorteil für beide Seiten gedacht. Ein Blick zurück – und ein erster Ausblick.
Vorgeschichte und Gemeindegründung
Etwa zur Zeit Napoleons siedelten sich die ersten Protestanten in der Region an; von 1853 bis 1948 waren die Orte um Mainzzu einer evangelischen Landpfarrei zusammengeschlossen. Seit 1893 (und bis zum 31. März 1955) waren Finthen und Drais dabei Teil der evangelischen Kirchengemeinde Gonsenheim. Wobei es zu dieser Zeit in den beiden katholisch geprägten Orten nur rund 15 Evangelische gab – die es daher vermutlich nicht ganz so einfach hatten.
Am 1. April 1955 - es war kein Scherz, sondern ein lange vorbereiteter Schritt – wurde Finthen zur selbständigen Kirchengemeinde erklärt und konnte somit seinen ersten eigenen Kirchenvorstand aufstellen. Drais, das bis dahin auch mit zu Gonsenheim gehört hatte, galt zur Zeit der Gemeindegründung als „Filial“ von Finthen und war noch auf dem Weg zu einer gleichberechtigten Partnerschaft. In den Monaten darauf erfolgte die Aufnahme in den Gemeindeverband, der auch die Bauherrenschaft übernahm.Denn bald wurde der Grundstein gelegt für das erste evangelische Gotteshaus in Finthen, für das es schon in den Jahren zuvor Pläne gegeben hatte. Auch dank maßgeblicher Unterstützung des Diakonischen Werkes konnte nun zügig mit dem Bau von Kirche und Pfarrhaus begonnen werden. Mit einem beeindruckenden Zug durch die Straßen und einem großen Gottesdienst am 28. Oktober 1956 wurde die neue Kirche feierlich eingeweiht, die damals noch am Rand des Ortes lag.
Ein ganz besonderer Tag muss dies auch für Pfarrer Gottfried Jentzsch gewesen sein. Der Nachfolger von Günther Moers(der 1951 bis 1953 noch in Gonsenheim Pfarrer gewesen war)galt als Motor von Gemeindegründung und Kirchbau. Doch schon zwei Wochen nach der Kirchweih musste er sich schweren Herzens von seiner Gemeinde verabschieden, weil er ganz überraschend versetzt wurde. Die Hoffnung, mit neuer Kirche und eigener Leitung auch mehr Stabilität zu erlangen, blieb also zunächst unerfüllt. Denn auch seinem Nachfolger, Pfarrer Eckart Fischer, waren nur wenige Monate vergönnt. In gewisser Weise gab es seinerzeit ein „Drei-Pfarrer-Jahr“, denn anschließend trat Reinhard Walter seinen Dienst an. Er sollteallerdings der Pfarrer werden, der bisher die längste Zeit in der Gemeinde verbracht hat: Bis 1978 blieb er in Finthen-Draisund begleitete sehr viele prägende Entwicklungen mit.
Um sich näher über diese Epoche zu informieren, lohnt ein Blick in die stichwortartige Chronik der Evangelischen Kirchengemeinde Finthen-Drais und in die Festschriften der vergangenen Jahre, in denen die Entwicklungen dieser Zeitausführlich beschrieben werden.
Die Gemeinde in den sechziger und siebziger Jahren
In den Jahren darauf gab es weitere Neuerungen zu begrüßen: 1961 konnten die drei Kirchenglocken gegossen undeingebaut werden, die jeweils den Namen eines Reformators tragen: Martin Luther, Ulrich Zwingli und Johannes Calvin. Die Orgel kam 1962 hinzu. Auch das Gemeindeleben selbst, das damals noch hauptsächlich im Wohnzimmer des Pfarrhau ses stattfand, nahm immer mehr Form an. So konnte schon 1959 das erste kleine Gemeindefest gefeiert und zur ersten Bibelwoche eingeladen werden. Hatte die Zahl der Evangelischen im Ort zur Zeit der Gründung bei knapp 700gelegen, expandierte die Gemeinde in den folgenden Jahren stark. Das Rhein- Main-Gebiet wurde immer beliebter,besonders die Universitäts- und Landeshauptstadt.
Auch in Finthen und Drais entstanden einige Neubaugebiete, die vor allem junge Familien anzogen. Wie einige ihrer Nachbarorte wurden die einst selbständigen rheinhessischen Dörfer 1969 zu Mainzer Stadtteilen. Die siebziger Jahre könnten mit dem Motto „Ökumenische Ausweitung und Aufbruch aus der Diaspora“ überschrieben werden. Zu den Höhepunkten dieser Zeit gehören die Feierlichkeiten zu „175 Jahre evangelisches Mainz“ 1977. Im selben Jahr wurden auch der erste ökumenische Schulgottesdienst und die erste evangelische Taufe in Drais gefeiert. 1979 wurde der erste Gemeindebrief erstellt – damit begann eine beliebte Tradition, die bis heute beibehalten wird um viele Mitglieder über das kirchliche Leben zu informieren. Nachdem Reinhard Walter 1978 zum Propst für Nord- Starkenburg berufen worden war, folgten zwei Jahre der Vakanz, bis 1980.
In Drais fanden die Gottesdienste in der Regel alle 14 Tage statt, und im Laufe der Zeit an verschiedenen Orten: Anfangs im Schulsaal, später im katholischen Seniorenheim, wo die Evangelischen die Kapelle nutzen konnten. Diese Möglichkeit ging jedoch 1964 verloren, bedingt durch die Übernahme des Altenheims durch die Martha- Schwestern. Das Angebot, per Kleinbus nach Finthen gebracht zu werden, fand bei den Gottesdienstbesuchern nicht den erhofften Anklang, weshalb es Überlegungen gab zum Ankauf der kleinen Kapelle am Ortsausgang Richtung Lerchenberg. Von 1975 an wurden einige Jahre lang Gottesdienste in der katholischen Kirche gehalten, wobei oft Pfarrvikare aus Finthen tätig waren.
Die detaillierte Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde Finthen-Drais in diesen Jahren, also von den Anfängen bis zum 25-jährigem Jubiläum anno 1980,kann man nachlesen in der Jubiläumsbroschüre - ausführlich und profund dargestellt von Prof. Otto Böcher.
Die achtziger und neunziger Jahre
Karin Vetter war von 1980 bis 1988 als Pfarrerin in der Gemeinde tätig, ihr Mann Friedrich Vetter hatte von 1980 bis 1989 die Pfarrvikar-Stelle inne. Ihnen folgte Ilse Fischer (1989 bis 2002), die sich die Pfarrstelle I von 1992 bis 1997 mit ihrem Mann Christian Fischer teilte. Fünf gute Jahre, sowird es im Rückblick von vielen empfunden, erlebte die Gemeinde auch mit einem weiteren beliebten Pfarrer-Ehepaar: Bettina Marloth-Claaß und Stefan Claaß, die zum 1. Februar 1990 gemeinsam ihren Dienst antraten und sich die Pfarrstelle II teilten. Josef Scheuba ist seit dem 1. März 1996 als Gemeindepfarrer mit voller Stelle tätig.
Die Zeit von 1980 bis 1989 stand im Zeichen des gesellschaftlichen und diakonischen Engagements. Da nicht nur in der „großen Politik“, sondern auch in der evangelischen Gemeinde schwierige soziale Themen verhandelt wurden, empfanden einige diese Zeit mitunter auch als eine Krise.Zudem galt es die Herausforderung zu meistern, als evangelische Kirche an mehreren Orten präsent zu sein. Zum einen war dies bedingt durch die Verteilung auf die beiden Stadtteile, zudem galt es die Bewohner der beiden Altenheime„Pro Vita“ in Finthen und „Maria Königin“ in Drais zu betreuen. Mitte der achtziger Jahre kam das Gebiet der „Römerquelle“ hinzu, in dem heute etwa 5000 Menschen aus über 40 Nationen leben. Dort wurde ein eigenes Gemeindezentrum errichtet. Auch der Gemeinwesen-Treff auf dem Katzenberg fiel in den Zuständigkeitsbereich. Später kam noch der Ortsteil Layenhof hinzu.
Mit „Bewältigung der Krise; neues Selbstbewusstsein bei ökumenischer Ausrichtung“ werden die folgenden Jahre in der Rückschau überschrieben. „Kosten sparen und Stärke gewinnen“ wurden zu Leitsätzen der Gemeinde. Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch im Sinne einer zentralen Ausrichtung und besseren Erkennbarkeit wurde Wert gelegt auf einen nachhaltigen Gemeindeaufbau an einem Ort und dieBesinnung auf das „Kerngeschäft“.
In den Gemeindebriefen dieser Zeit wird ausführlicher auf die Aktivitäten und Entwicklungen eingegangen. Zudem können viele langjährig engagierte Gemeindemitglieder Auskunft geben.
Die Zeit nach der Jahrtausendwende
Um als Kirchengemeinde vor Ort besser erkennbar zu werden und sich stärker als bisher zu profilieren, galt es einige weitreichende Entscheidungen zu treffen. Dazu zählte vor allem die Übergabe des kosten- und personalintensiven Katzenberg-Treffs an das Diakonische Werk. Zudem wurde 2003 der Standort Römerquelle aufgegeben. Dafür wurde jedoch ein neues „Dietrich-Bonhoeffer-Haus“ in unmittelbarer Nachbarschaft zur Finther Kirche gebaut, mit ihr verbunden durch das ehemalige Pfarrhaus und einen funktionalen Anbau. „Miteinander Neues wagen“, unter diesem Motto feierte man 2006 das 50. Jubiläum der Kirchweihe.
Eine Herausforderung bildete allerdings die neue Regelung durch die landeskirchenweite Pfarrstellen bemessung, die keine zwei vollen Stellen mehr vorsah. Seither galt die Pfarrstelle I für Drais und teilweise Katzenberg, die ganze Pfarrstelle II deckte Fin then bis auf Teile des Katzenbergs vollständig ab. Im Juni 2003 trat Pfarrer Hans-Joachim Wach seinen Dienst an, ihm folgten Pfarrvikar Ulrich Dahmer und von 2008 bis 2013 Pfarrer Erich Ackermann. Von September 2013 bis 2016 war Stefanie Palme-Becker mit einer halben Stelle in Finthen tätig. Marieanne Besetzny arbeitet seit 2005 als Gemeindesekretärin in Finthen.
Eine eigene Kirche in Drais
Eine eigene Kirche in Drais zu haben, dieser langgehegte Wunsch ging zu Pfingsten 2003 in Erfüllung. Entsprechende Begeisterung und tatkräftiger Einsatz waren mit der Planungs- und Bauzeit verbunden. Einige Überlegungen hatte esgegeben, wo die Evangelischen im Stadtteil eine Kirche nutzen oder errichten könnten. In den Jahren zuvor waren die Gottesdienste meist in der Kapelle des Draiser Seniorenheims gefeiert worden. Im Neubaugebiet am Rande der Obstplantagen, sogar an einem historischen Pilgerweg gelegen, war 1999 ein passender Platz gefunden worden. Das Gotteshaus selbst hatte zuvor in Hackenheim bei Bad Kreuznach gestanden; 1967 war es in der Tradition der Notkirchen Otto Bartnings errichtet worden. Als die Kirchedort zu klein geworden war, erhielten sie die Draiser als Geschenk, wobei es dennoch einiges zu erneuern gab. Auch der 15 Meter hohe Glockenturm wurde komplett transportiert und schwebte dann förmlich an seinen neuen Bestimmungsort.Alle Hände voll zu tun gab es bis zur Einweihung, doch auch viele katholische Christen packten mit an. Der Anbau mit Gemeinderaum wurde 2005 eingeweiht, ebenso wie dasKirchenfenster. Nach einem Festumzug durch den Ort konnten im Jahr darauf die drei Kirchenglocken feierlich übergeben werden. Sie stehen für Glaube, Liebe und Hoffnung. An Pfingsten 2013 bot sich dann Gelegenheit, dankbar Rückschau auf zehn Jahre evangelische Kirche in Drais zu halten.
Auch mit Blick auf die vergangenen 13 Jahre sei verwiesen auf Gemeindebriefe und Gespräche mit Haupt- und Ehrenamtlichen, die gern ausführlicher darüber berichten.
Besondere Kennzeichen der Kirchengemeinde Finthen-Drais
„Evangelische Kirchengemeinde Finthen-Drais“: Der offizielle Name, den es seit 1992 gab, war zugleich Programm: Er stand für das Leben und Handeln im Sinne des Evangeliums, die Verbundenheit mit Christen der Welt und die Gemeinschaft, zu der Gott einlädt, sowie für die beiden Teile als Partner. Die wichtigsten Ziele dabei konntenzusammengefasst werden mit dem Leitsatz „Menschen einladen – Christus verkündigen, Menschen begleiten – Glauben erleben“. Dieses Motto stand über der Arbeit im Kirchen vorstand, in den Ausschüssen und Arbeitskreisen. Zudem sollte es die Identifikation mit der Kirche vor Ort fördern, sei es bei Veranstaltungen und weiteren Aktivitäten, bei den kirchlichen Feiern im Jahreslauf und den Gottesdiensten die als Mitte des Glaubenslebens und wichtiger Treffpunkt gelten.
In den vergangenen Jahren konnte die evangelische Kirchengemeinde stolz darauf sein, etwa 150 ehrenamtlich Mitarbeitende zählen zu können. In den unterschiedlichsten Bereichen waren und sind viele Menschen aktiv, von A wiedem Austragen des Gemeindebriefs bis Z wie dem Zubereitenleckerer Köstlichkeiten bei Feierlichkeiten. Entsprechend vielfältig sind die Angebote, die sich an Menschen aller Altersgruppen richten. Eine hohe Priorität genießen dabei die Kinder und Jugendlichen, quasi als „Gemeinde von heute und morgen“. Neben entsprechenden Kreisen und Gruppen wird mehrmals im Jahr zu Familiengottesdiensten eingeladen. Unter der Leitung der engagierten CVJM-Sekretärin Ilka Zimmermann erlebte auch die Arbeit mit Jugendlichen in der Gemeinde einen erheblichen Aufschwung.
Doch auch ältere Menschen, vor allem die Bewohner der Altenheime, sollten spüren, dass sie zur Gemeinde gehören. Einen wichtigen Beitrag dazu leisteten neben dem Besuchsdienst bei Geburtstagen und Jubiläen Gesprächsrunden, Seniorennachmittage, besondere Gottesdienste oder Angebote zur persönlichen Begleitung. Im Blick behalten wurden dabei auch die „Best Ager“, für die es eine Reihe von anspruchsvollen und abwechslungsreichen Angeboten gibt. Die Kirchenmusik in ihrer größtmöglichen Bandbreite bildete ein Herzstück der Gemeinde. Ein junges und talentiertes Team gestaltet auch nach wie vor musikalische Gottesdienste und weitere Veranstaltungen mit. Dazu zählen insbesondere der Chorleiter und Organist Georg Scholz, Sa Ra Park, Posaunenchorleiterin Dorothee Schmidtund Chorleiterin Sina Hermann.
In beiden Orten gehören derzeit rund drei Viertel der Bevölkerung einer christlichen Kirche an, das Verhältnis liegt bei etwa zwei Dritteln Katholischen und einem Drittel Evangelischen. Die ökumenische Zusammenarbeit hat daherin Finthen und Drais einen hohen Stellenwert.
Von einer breiten Basis der Bevölkerung wird sie selbstverständlich mitgetragen; nicht wenige Familien sind selbst konfessionell gemischt. Dementsprechend gibt es eine ganze Palette ansprechender Angebote, zu denen die Schwelle bewusst niedrig gehalten wird. Veranstaltungen wie der Weltgebetstagim März finden im Wechsel in beiden Kirchen statt. Die ökumenischen Bibel- und Besuchsdienstkreise können inzwischen auf eine lange Tradition zurückblicken. Ökumenische Gemeindebriefe und Neujahrsempfänge gibt es seit dem Jahr 2000. Großer Beliebtheit erfreut sich auch ein weiteres erfolgreiches Projekt im Kirchenjahr, der „Ökumenische Pfingstmontagsgottesdienst mit Brotbuffet“ in Finthen.
Die Neuordnung der Gemeinden
Zum Jahresbeginn 2014 haben sich die evangelischen Gemeinden im Südwesten der Stadt neu zusammengefunden. Nach einer fast 60-jährigen gemeinsamen Geschichte löste sich die bisherige Kirchengemeinde Finthen-Drais auf. Während Finthen nun eigenständig ist, fusionierte Drais mit der Evangelischen Maria-Magdalena-Gemeinde auf dem Lerchenberg. Die Fusion soll eine Chance bieten, beliebte Traditionen beizubehalten und Neues zu wagen. Da die Gemeinde vom Engagement ihrer Mitglieder lebt, sind Ideen und tatkräftige Unterstützung in vielen Bereichen sehr gefragt. Doch ob Drais, Lerchenberg oder Finthen: Menschen aller Generationen sind in den evangelischen Kirchen jederzeit willkommen.
Von Nicole Weisheit-Zenz